Sterne…

 

Ein Fragment aus dem Roman
“Yjet nuk vishen kështu”
(“Sterne entblättern sich nicht”)

(aus dem Albanischen von Hans-Joachim Lanksch)


Wäre ich nicht so traurig, wäre ich glücklich. Nieselt es? Ich kann nicht erkennen, was draußen passiert. Ich wäre glücklich, hätte mich nicht dieser tückische Schmerz überflutet. Am Ende ist es besser so, ich kehre dorthin zurück, wohin niemals zurückzukehren ich mir geschworen hatte. Mit diesem Land hier verbindet mich nichts mehr, darum gehe ich weg, ich würde aber nicht weggehen, wenn man mich hätte leben lassen. Nein, was ich höre, ist kein Regen. Das ist das Rauschen des Meeres, das sich rekelt und Knochen aufweicht.
Wie wird mir ums Herz sein, wenn ich dich aufschreien höre, sobald du meiner ansichtig wirst? Mutter, was hätte ich nicht gegeben, dich umarmen zu können. Aber ich werde dein Weinen ertragen müssen, ohne deinen Kopf an die Brust drücken zu können: psst Mutter, jetzt bin ich da, es ist vorbei, der Schmerz ist verflogen, jetzt bin ich da und du brauchst nicht mehr zu stöhnen; weißt du noch, was du mir versprochen hast? Wenn wir nur beieinander sind, läßt sich alles überstehen, das Gift der Gedanken, die Heimtücke der Sonne, sogar die blaue Kälte des Mondes. Ich werde aber kein Wort hervorbringen können und Gott weiß, wie ich diesen Moment ertragen werde.
Ich hatte beschlossen, nicht zurückzukehren, nicht so heruntergekommen, wie ich es war, nicht so zugerichtet, wie ich es bin. Auf gar keinen Fall zurückkehren. Dann lieber hierbleiben, auch wenn mich nichts an dieses Land bindet. Du bist ein Dickkopf, darum wirst du es nicht weit bringen im Leben. Richtig, ich bin ein Dickkopf, oder, besser gesagt, ich war einer. Leila, du wirst deinen Fuß dort nicht auf die Erde setzen, ehe du sauber geworden bist.
Tagsüber war dieser Entschluß glasklar, fest, endgültig. Aber die Nacht ließ mich zur Verräterin werden. In den wenigen Nächten, in denen ich schlief wie alle anderen Menschen auch, träumte ich von der Rückkehr nach DortUnten.
Ich stieg von der Fähre, es war ein Sonnentag, wie man ihn nur in DortUnten erleben konnte. Eine Wahnsinnssonne, der reine Wahnsinn. Ich stieg aus und umarmte Mutter, die sich mir in die Arme stürzte und in Tränen ausbrach; die kleine Gestalt vor mir mit ihrem Scheitel unter meinem Kinn.
Leila.
Psst, Mutter, siehst du, daß ich zurück bin?
Leila.
Rings um unsere Umarmung wühlen streunende Köter im Müll, der, über die Mole verstreut, vor sich hinfault. Kinder mit wunderbaren Augen tanzen einen gespenstischen Reigen. Koffer fliegen durch die Luft, den Verwandten entgegen, die nur darauf warten, etwas daraus zu ergattern. Polizisten in ausgeblichenen Uniformen kratzen sich am Hintern und sehen neidisch zu. Dichter Staub pudert die Augenbrauen. Zänkische Hupen betäuben den Himmel gnadenlos.
Wir umarmen einander noch immer. Reglos. Mutters Augen in meiner Seele, meine Augen in der glühenden Hitze. Im Traum komme ich nämlich manchmal im Sommer in DortUnten an. Wenn ich dann mit einem Schlag aufwache, bin ich glücklich. Ich sehe mich im engen Zimmer um, der Zelle dieses Alptraums, und bin immer noch glücklich von dieser Begegnung mit der Rückkehr. Es ist noch Nacht. Ich lege mich wieder hin und möchte den Traum weiterträumen, der mir ein Fitzelchen Traum beschert. Ich weiß, daß ich es mir am Morgen anders überlegen und zum alten Entschluß zurückkehren werde: nie wieder zurück! Jetzt ist aber Nacht, ich möchte in dem Trugbild bleiben.
Ich schließe die Augen und alles fängt da an, wo ich mich ausgeklinkt hatte. Mutter, ich, Großmutter, die auf dem rechten Bein hinkt, Aurora, die nicht gestorben ist und nicht aufgehört hat zu wachsen, Vater, der uns mit Gepäck beladen dicht auf den Fersen folgt, der Lärm der Stadt, die uns mit ihrem faul vor sich hin starrenden Entsetzen begleitet. Wir haben einander die Arme um die Schultern gelegt, meine linke Hand liegt auf Auroras klopfendem Herzen.
Leila, ich hab dir ja soviel zu erzählen.
Sie sagt es tief gerührt. Sie ergreift meine Hand, die ihr Herz berührt, und blickt zu meinen Augen auf. Ich schaue aber geradeaus, aus Angst, sie könnten mich verraten.
Du erzählst mir doch, wie es drüben war, was für Sachen du gelernt hast und wieviel schöne Männer du gesehen hast?
Ja, Aurora, wenn wir Zeit haben.
Morgen.
Ich lache und versuche mein möglichstes, damit das Lachen fröhlich klingt. Obwohl das ein komisches Gefühl ist, denn ich bin fröhlich, das hier ist ein fröhlicher Traum. Großmutter sagt etwas, sie hat nur noch einen einzigen Vorderzahn im Mund und um den schlingt sich ihre Zunge wie Blätterteig. Wir verstehen kein bißchen, was sie sagt. Aber wir lachen alle drei, Aurora, Mutter und ich. Großmutter macht uns nach, zuerst unwirsch, dann lacht auch sie aus vollem Hals. Das rettet mich aus der Verlegenheit. Wir gehen weiter auf das Haus zu, zu dem man nie gelangt. Von hinten ist Vaters Keuchen zu hören, der die Gluthitze verwünscht und die Reisetaschen von einer Hand in die andere nimmt. Wir gehen weiter ins nirgendwo. Und da endet der Traum. Endgültig.

* * *

In diesem Teil des Hafens, vor der Fähre, sind keine Passagiere. Ein Mann, um die fünfundfünfzig, schaut seine Schuhe an und raucht eine Zigarette, die fast bis zum Filter heruntergebrannt ist, ohne auf den Boden zu fallen. Die Asche hat sich gekrümmt und sieht von der Seite aus wie eine graue Verlängerung seiner Finger. Die Finger zittern leicht. Der Kopf mit dem weißen Haarbüschel an den Schläfen auch. Er wendet den Blick nicht von den Schuhspitzen. Änderte er die Haltung, würden ihn seine Tränen verraten. Würde er die Augen von dort wegwenden, dann würden die Tränen aus der Erstarrung erlöst und würden auf den Asphalt stürzen, ohne die Wangen auch nur zu berühren. Doch der Mann möchte nicht weinen, er wird genug Zeit dazu haben, wenn seine Frau von Verzweiflung und Entsetzen gepackt wird. Der Mann weiß, daß er das nicht ertragen können wird. Jetzt aber versucht er, an sich zu halten. Die Asche fällt zu guter Letzt doch noch von der Zigarette ab, ein Teil wird dabei zu Staub, der andere landet auf der rechten Schuhspitze. Er schiebt den Filter durch die Finger, bis die Fingerspitzen ihn ganz am Ende zu fassen bekommen. Er hat kein Feuer. Der Mann steckt die Kippe in die Tasche. Ein Polizist tippt ihn auf die Schulter.
“Sie können einsteigen. Hier entlang, kommen Sie mit.”
Der Polizist ist jung, vielleicht zehn Jahre älter als Leila. Er gibt den anderen beiden Polizisten ein Zeichen, die kommen, um den Sarg zu holen.

“Nein”, bedeutet der Mann, räuspert sich und blickt die drei Hafenpolizisten fest an, einen nach dem anderen, während sie sich aufrichten und die Arme an den Uniformen herunterbaumeln lassen. “Ich heb ihn selber hoch.”
“Sind Sie sicher?” Will der erste fragen, bringt aber keinen Laut hervor. Der Mann hebt den Sarg und geht auf den Einstieg der Fähre zu. Sie gehen hinter ihm her. Sie geben ihm die Schlüssel zu einer Kabine, doch er schüttelt ablehnend mit dem Kopf und geht zum Bug.
“Hier wird dir wohler sein, Tochter, später gehen wir rein, wenn du willst.”
Die drei Polizisten folgen ihm, kleben ihm auf den Fersen. Die Worte bleiben ihnen im Mund kleben. Nun hat der Mann den Sarg sorgfältig hingerückt, flüstert ihm wieder etwas in seiner Sprache zu und wendet sich ihnen zu. Derjenige, der eine Art Chef ist, reicht ihm den Paß, den Führerschein, die polizeiliche Erlaubnis, den Autopsie-Bericht, die Genehmigung des Krankenhauses, die polizeiliche Genehmigung von DortUnten, die Photos von Leila, bevor sie eine Leiche wurde, die Photos von Leilas Leiche.
“Hier endet unsere Mission.”
Seine Lippen beben und er versucht, in barscherem Ton zu sprechen. Die beiden anderen Polizisten schauen zur anderen Seite, auf das Meer, die Möwen, andere Schiffe, auf den Rost im Wasser, das Schüttelfrost zu haben scheint.
“Sie verstehen unsere Sprache, oder?”
“Ja, ich verstehe Sie.”
“Haben Sie … andere Kinder?”
“Hatte ich.” Die drei Männer sehen einander blitzartig an. Einer von ihnen zuckt mit den Schultern.
“Ich hatte noch eine Tochter. Die hab ich vor zwei Jahren begraben.”
O Gott, sagt sich der jüngste Polizist, was für ein schrecklicher Tag. Am liebsten nähme er die Beine in die Hand, schämt sich aber, es zu tun, steckt die Hände in die Hosentaschen und versucht so auszusehen, als sei er schwer von Begriff. Mein Gott, was für ein Tag.
“Signore, wir wissen nicht, wie wir Ihnen unser Mitgefühl aussprechen können. Sie sollen wissen, sollte es Sie wieder hierher verschlagen … sollte es irgendetwas geben, was wir für Sie tun könnten … Ich habe zwei Söhne, Zwillinge, im Kindergartenalter … ich meine, ich bin auch Vater und …”
Der Polizist, der eine Art Chef ist, ist ganz ergriffen und den beiden anderen schüttelt es die Schultern ärger als das weiße Haarbüschel des Mannes mit dem Sarg. Sie geben ihm nacheinander die Hand zum Abschied. Er blickt sie an, trocken, welk, seine Stimme springt aus dem Körper und kauert sich in die Sargbretter. Er bringt es nicht fertig, den Polizisten zu danken. Gerade jetzt mußt du mir Streiche spielen, du Lümmel? Er spannt den Hals an, um zu sprechen, aber – nichts. Er läßt es bleiben, möchte nur noch allein sein, denn wenn diese Szene auch nur noch ein wenig andauert, wird er losschreien und Leila neben ihm wird sich erschrecken und er will doch nicht, daß sie sich erschrickt.
Die Polizisten gehen. Der Mann setzt sich auf den Boden. Kramt Tabak und Zigarettenpapier hervor. Der Augenblick für eine Selbstgedrehte ist gekommen. Er fängt an, sich eine zu drehen.
“Die rücken einem den Kopf wieder zurecht.”
Aus dem Inneren des Sarges kein Laut. Zwei Seeleute schreien etwas von einem Fischkutter herüber. Es vergeht viel Zeit, bis er sich diese verflixte Zigarette gedreht hat. Er zündet sie an.
“Bloß noch ein bißchen und dann fahren wir los, Leila.”
Lastarbeiter verhandeln über das Verladen einiger Autos auf die Fähre. Der Mann raucht und scheint im starken Tabak etwas wie Heilung zu finden. Was für ein Luxus, eine ganze Fähre für
sich allein, selbst im Film bekommst du keinen solchen Komfort zu sehen. Er und Leila kehren nach Haus zurück und sonst niemand. Keine Menschenseele.

Als er gegangen war, um die Passage für die Rückfahrt zu lösen, hatte man ihn im Hafen mit aufgerissenen Augen angeschaut.
“Sie sind der einzige Passagier, der nach DortUnten zurückfährt. Haben Sie eine Ahnung davon, was in Ihrem Land gerade passiert? Krieg, alles steht in Flammen. Sind Sie sicher, daß Sie zurück wollen? Täglich kommen Hunderte und Hunderte von Verzweifelten hierher und niemand fährt hinunter. Niemand setzt mehr seinen Fuß dorthin, verstehen Sie?”
“Krieg habe ich hinter mir gelassen, Signori, Krieg werde ich wieder vorfinden. Ich will mir nichts vormachen und streue mir keinen Sand in die Augen.”
Sie sahen ihn immer noch wie vom Donner gerührt an. Er mußte ihnen erzählen, daß der Sarg nicht leer ist und der Körper seiner Tochter nicht mehr warten kann; daß es drei Jahre her ist, seit sie von zu Haus fortgegangen war und daß er sie jetzt als Tote abholt, daß er sie beerdigen muß, bevor es zu stinken anfängt. Der Beamte hatte ihm erschüttert ein genug mit der Hand bedeutet und ihm gesagt, er werde die Dokumente zur Einsichtnahme einbehalten. Die Sache sei vertrackt, mit einem
Leichnam … An der Wand hinter dem Hafenbeamten hing ein großes Farbphoto von einer jungen Frau, um sie herum drei Kinder, wie die Küken.

“Wir fahren weg und machen es uns endlich zu Haus bequem. Was hält uns beide noch hier? Na, Leila, was meinst du?”

* * *

Ich weiß, daß Er alles sieht, versteckt irgendwo an der Mole. Die Polizei hat ihn überall gesucht und sie wird ihn bestimmt nie finden. Aber nun ist er hier, ich spüre, daß er hier herumhängt. Ich habe jetzt solch einen Riecher, daß ich genau weiß, wo er ist und was er gerade denkt. Zu spät. Ich habe gelernt, mich vor ihm zu schützen, jetzt, da ich diese Fähigkeit nicht mehr gebrauchen kann. Diese Beziehung war eine pechschwarze Liebe gewesen, wie ein Schacht, in den ich ohne Kerze und Spaten geschlittert war. Ich hatte mich darauf eingelassen, ohne zu wissen, daß es von dort kein Herauskommen mehr gab. Es war ein Tunnel, so finster, daß ich mich darin selber verirrte. Jetzt beobachtet Er meinen Sarg, mit einer Leichenbittermiene, im Innersten zerrissen, mit Schande beladen durch den Mörderinstinkt, den er in sich entdeckt hat. Er jammert jetzt meinetwegen, die ich hier eingeschlossen bin, meinetwegen und wegen Vaters Tabak, der ihm bange macht. Der Jammerlappen.
Ich fasse mich in Geduld, ich muß nur noch meinen Körper nach Haus begleiten, Mutter ein letztes Mal und zum ersten Mal Auroras Grab sehen. Dann mache ich mich für immer und ewig auf und davon.
Es ist Montag. An diesem Tag ist mir immer alles gut gelungen. Montag, der fünfte März 1997. Ich sehe gleichzeitig meinen wie Melonenscheiben zerschnittenen Körper und den Menschen, der mich so zugerichtet hat. Er ächzt und gibt Acht, nicht hinter dem Mast hervorzutreten, hinter dem er sich versteckt hat. Wie ist einem wohl zumute, der sich in einem Sarg sieht. Der weiß, daß er nie wieder einen Lebenden mit der Hand berühren, eine Tasse Kaffee trinken oder sich die Haare kämmen wird. Seltsam, den zu sehen, der deinen Körper mit dem Messer zerfetzt hat, und ihm nicht zu erscheinen, ihn nicht – wie in den Tragödien – aufheulen und in panischem Schrecken ins Endlose davonrennen zu lassen.
Er keucht gepeinigt, aber nicht so gepeinigt, daß er zur Polizei ginge, um sich zu stellen. Ihm ist klar, daß man die Ermittlungen einstellen wird. Eine Zeitlang wird man den Mörder einer Prostituierten suchen, dann wird man alles zu den Akten legen. Es lohnt sich nicht, Geld für eine Prostituierte auszugeben, die von DortUnten kommt. Dieses Pack, kommt hierher, liegt uns auf der Tasche und fällt uns zur Last. Haben wir keine ersprießlicheren Nachbarn abbekommen als solch ein unseliges Land? Aber Nachbarn kannst du dir ebensowenig aussuchen wie Blutsverwandtschaft. Ist böses Blut darunter, ist es aus, das bleibt dir ein Leben lang. Ist dir ein übler Nachbar an die Seite gesetzt, stehen dir zwei Wege offen: entweder nimmst du ihn an die Kandare oder du wechselst die Wohnung. Aber Staaten können nicht das Land wechseln, sie können andere Dinge wechseln, Gesetze, Strategien, Armeen, Präsidenten, Verbündete, sogar – so sie wollen – ihre Namen, aber nicht das Land. Und so eine verdorbene Bande an die Kandare, aah, unmöglich …
Die Akte wird in irgendeiner Ecke der Registratur verstauben. Auf Aktenblättern geistern Photos von mir herum, wie ich auf den Strich gehe, in dieser gräßlichen Aufmachung, die ich gehaßt habe, darunter kleben Photographien von meinem Körper, abgeschlachtet wie ein Schaf.
Der von der Kripo schoß Photos und brummte einen Song vor sich hin, der dort ein Hit war. Während er knipste, schrillte das Handy. Er schoß gerade Nahaufnahmen von meinen Hals und hatte seine Beine in meine Hüften gestemmt, doppelt gebückt, knipste und sang.
Ciao … Nein, ich kann jetzt nicht, wieso, ist es dringend? Wir reden am Abend, jetzt habe ich zu tun, die haben eine Prostituierte umgebracht, wie bitte? Übel zugerichtet, kannst du dir nicht vorstellen, die haben aus ihr einen Riesenhaufen Hackfleisch gemacht. Habe ich wirklich wie ein Haufen Hackfleisch ausgesehen? Ich bin keine Prostituierte, bin nie eine Prostituierte gewesen. Gott sei Dank habe ich immer ein Stück Papier mit meinen Personalien bei mir gehabt, das hat die Polizei gefunden, ich werde also nicht unidentifiziert bleiben und meine Eltern können benachrichtigt werden.
Na gut dann, reg dich nicht auf, wir reden beim Abendessen, gut, gut, wir gehen essen, nichts Großes, ja? In diesem Monat bin ich ein bißchen knapp bei Kasse, eine Pizza, gut, ciao, Küßchen, ich dich auch, ich dich auch, also dann, ‘Wiedersehen.
Uff, stöhnte der Photograph. Che strazio ‘sta donna.* Er schaltete das Telephon ab und knipste am laufenden Band weiter, bis er den Befehl “genug” erhielt.

Vater wischt sich eben den Schweiß ab. Er stöhnt, daß die Planken der Fähre vibrieren. Verzeih mir, Papa. Solch einen Schlag hattest du nicht erwartet. Zum Glück erröten Leichen nicht, wie hätte ich dir sonst in die Augen blicken können? Lebend wollte ich nicht zurück, wie hätte ich euch ins Gesicht lügen können? Wie hätte ich deine rührende Art akzeptieren können?

Leila, Vaters Augapfel, mein Schatz. Mein Schatz Leila, du meine Freude, du schönste Tochter auf der ganzen Welt.
Ssatz, bin Ssatz.
Wiederholte ich laut das erste Mal, als ich – ein Kleinkind – ein ganzes Wort aussprechen konnte. Meine Eltern lachten lauthals. Mutter drückte mich in die Arme, die nach Seife rochen. Und später, als ich erwachsen war: Leila, Vaters Schatz, paß auf dich auf. Ich geb mir Mühe, Vater. Ich spiele den Ssatz mit diesen viehischen Kerlen hinter und auf meinem Körper und sage mir dabei wieder und wieder, daß ich der Schatz bin.
Wer weiß, wie sehr du gelitten hast, mein Mädchen. Was haben sie nur mit dir gemacht, mein Augapfel? Sag doch ein Wort. Wie soll ich dich zu deiner Mutter bringen, Leila, mein Herzblatt?

Die Fähre legt ab, sie schwankt wie ein alter Mann, der nur mit Mühe aus dem Bett hochkommt, sie hustet zweimal und fährt los. Im Meer regt sich keine Welle. Vater beugt sich herab und legt die Lippen auf die Sargplatte.
Nimmst du mich auch mit nach DortOben, Leila? Wenn du mit Fatos verheiratet bist und ihr so ein schönes Haus habt wie im Film?
Unbedingt, Schwesterherz, ich hab’s dir versprochen.
Und ich werde auch groß und gut wie du.

Du bist sehr gut, Aurora. Du bist die allerbeste Schwester und die allerschönste und überhaupt die allerste.
Als ich wegfuhr, hat mich Aurora bis zum Hafen begleitet, auf der anderen Seite des Meeres, dort, wo Vater und ich in einigen Stunden aussteigen werden. Es war ein Regentag, Sprühregen. Es war das letzte Mal, daß ich meine Schwester sah, das konnte ich aber nicht wissen.
Sechs Monate später brachten sie mir ein Photo von ihrer Leiche. Wenn dir der Mord an deiner Schwester nicht reicht, machen wir mit deinem Vater und deiner Mutter weiter, drohten sie. Auroras Augen standen offen, in ewigem Erstaunen. Einen Tag, nachdem ich die Photos von ihr als Leiche gesehen hatte, willigte ich ein, als Prostituierte zu gehen. Und zu sterben, unablässig, von jenem Tag an.
Möge deine Lippe nicht mehr lächeln, mögst du dich nicht mehr an deinen Namen erinnern können, du Mörder. Ich bete, daß dein Gedächtnis in die Wellen dieses Meeres gespült werde. Denn, geschähe das nicht, wie könnte deine Seele, riefest du dir in Erinnerung, was du getan hast, dieses Grauen hinunterschlucken? Ich würde für dich sterben, so sehr liebe ich dich, hast du einst gesagt. Aber du bist lebendig und ich kann dir nicht ins Gesicht spucken.
Das Meer trägt uns sanft im Arm. Mich und Vater und diese gottverlassene Fähre. Eine sanftere Straße als das Meer wird man nie erfinden.


(aus dem Albanischen von Hans-Joachim Lanksch)


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